Friede im Kopf
Posted on December 5, 2023 (Last modified on December 7, 2023) • 3 min read • 555 wordsIn einer Welt, die von Normen und Durchschnittswerten geprägt ist, wirkt das Konzept der Neurodiversität - wie ein frischer Wind. Es geht nicht nur um die Anerkennung, dass jeder Mensch einzigartig ist, sondern um die Wertschätzung dieser Einzigartigkeit, gerade wenn sie sich deutlich von der Mehrheit unterscheidet.
"im Kopf manchmal irgendwo"
Johannes’ Weg zur Diagnose von ADHS begann mit seiner Tochter. Auf Empfehlung ihrer Primarlehrerin wurde sie auf ADHS untersucht und diagnostiziert. Diese Entdeckung weckte bei Johannes eine Neugierde, denn er hatte bemerkt, dass die Symptome, die bei seiner Tochter zur Diagnose führten, auch auf ihn zutreffen. Daraufhin suchte er selbst ärztliche Hilfe auf und erhielt schliesslich dieselbe Diagnose. Solche persönlichen Entdeckungen sind weltweit häufig, da immer mehr Menschen Aspekte ihres Denken erkennen, die sie von der Norm unterscheiden.
Die australische Soziologin Judy Singer hat in den 1990ern den Begriff der Neurodiversität geprägt. Sie widersetzt sich dem herkömmlichen Paradigma, das Menschen mit ADHS, Autismus und anderen neurologischen Besonderheiten als krank ansieht, und betont stattdessen, dass diese atypischen Entwicklungen natürliche Varianten menschlicher Neurologie sind.
Diese Erkenntnis fordert uns auf, den Begriff des „Normalen“ neu zu interpretieren. Sind es die Einhaltung einer statistischen Norm oder die individuellen Besonderheiten, die das „Normale“ definieren? In der deutschsprachigen Welt, aber auch global, werden lebendige Diskussionen über Neurodiversität und deren gesellschaftliche Bedeutung geführt.
Menschen mit Zwangsstörungen etwa illustrieren, wie schwierig der Weg zur Akzeptanz und zum Verständnis sein kann, denn ihre Verhaltensweisen werden oft falsch interpretiert oder als reine Willensschwäche abgetan. Dabei übersehen viele, dass diese Verhaltensmuster aus tief verwurzelten Ängsten und neurologischen Besonderheiten resultieren, die nicht einfach “abgeschaltet” werden können. Diese Missverständnisse erschweren nicht nur das alltägliche Leben der Betroffenen, sondern führen auch zu sozialer Ausgrenzung und einer erschwerten Selbstakzeptanz der Betroffenen. Indem wir diese Komplexität anerkennen, öffnen wir den Weg für Empathie und massgeschneiderte Hilfen.
Das Internet spielt eine wichtige Rolle in diesem Prozess der Selbsterkenntnis. Eine Kollegin erzählte mir auf einer Zugfahrt beispielsweise von ihren Herausforderungen mit dem Aufschieben und dem sprunghaftem Arbeiten. Eine Online-Suche führte sie zur möglichen Selbstdiagnose ADHS, was ihre Erfahrungen in einem neuen Licht erscheinen liess.
Bei ADHS (sowie bei anderen Neurodiversitäten) stehen häufig die Herausforderungen im Vordergrund: Konzentrationsprobleme, Impulsivität, Hyperaktivität und Organisationsprobleme können im Alltag und Beruf als hinderlich wahrgenommen werden. Emotionale Schwankungen und soziale Herausforderungen führen oft zu Missverständnissen und geringem Selbstwertgefühl. Doch diese Herausforderungen unterstreichen nur einen Teil der ADHS-Realität.
Es ist ebenso wichtig, die positiven Aspekte von ADHS hervorzuheben. Menschen mit ADHS besitzen oft eine aussergewöhnliche Kreativität und Innovationsfähigkeit. Sie denken ausserhalb konventioneller Muster, was zu originellen Ideen führen kann. Ihre Energie und Begeisterungsfähigkeit äussert sich oft in intensivem Engagement für ihre Interessen. Diese Eigenschaften sind besonders wertvoll in kreativen, unternehmerischen und wissenschaftlichen Bereichen. Die Fähigkeit zur Hyperfokussierung kann unter den richtigen Umständen eine grosse Stärke sein. Was, wenn wir ADHS nicht als Krankheit, sondern, ähnlich wie die Körpergrösse, als Eigenschaft betrachten?
Neurodiversität fordert uns auf, unsere Vorstellungen von Arbeit, Bildung und sozialen Interaktionen neu zu gestalten. Sie betont den Wert jedes Menschen und die Notwendigkeit, Umgebungen zu schaffen, in denen alle gedeihen können. So stehen wir heute am Anfang einer Reise zu einer inklusiven Gesellschaft, in der neurologische Unterschiede frei von Bewertung existieren dürfen.Das Konzept der Neurodiversität ist ein Aufruf, die Vielfalt menschlichen Seins zu erkennen und zu feiern.
Unser grösstes Potenzial liegt in dieser Vielfalt. Indem wir die Unterschiede in unseren Gehirnen als Bereicherung ansehen, können wir eine Welt schaffen, in der jeder Mensch seinen inneren Frieden findet.
Hinweis der Redaktion: Alle Geschichten von Personen hier wurden anonymisiert und zum Teil fiktionalisiert. Die Anekdoten basieren jedoch alle auf wahren Gegebenheiten.
für die Visionen Ausgabe 6/2023